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CZ: Vom „Ausbrechen" und von „Zeitfenstern" | KAV vergibt Preis für beste Nachwuchs-Literaten

CELLE. Am Kaiserin-Auguste-Viktoria-Gymnasium scheint das Interesse an Literatur groß zu sein: Knapp 50 Schüler haben sich am Literatur-Wettbewerb der Schule beteiligt.


Der Wettbewerb wurde in zwei Altersklassen ausgeschrieben: Die Mittelstufenschüler sollten sich mit dem Thema „Ausbrechen" beschäftigen, die Oberstufen¬schüler mit „Zeitfenster". Sieger bei den jüngeren Schülern wurde Marien Keil. Die 15-Jährige hat den fiktiven Brief eines Engels geschrieben. Sieger in der Oberstufe wurde der 17-Jährige Florian Letsch, der in seinem Beitrag einen 20-minütigen Einkauf beschreibt.
„Es wurden ganz unterschiedliche Texte eingereicht:

Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Briefe und Monologe. Eine unheimliche Vielfalt", berichtet Jonathan Schneider. Der 17-Jährige hat den Wettbewerb zusammen mit seiner Mitschülerin Tatiana Kai-Browne (18) organisiert.

Einige Schüler haben sehr ausführliche Beiträge eingereicht. Die längsten Texte waren 28 und 35 Seiten lang. Für die Sieger gab es MP3-Spieler als Gewinn. Die weiteren Sieger freuten sich unter anderem über Büchergutscheine.

Florian Letsch's Text (Zeitfenster)


20 Minuten. Rasend schnell mit den Augen das unterste Parkdeck absuchen - da, ein freier Platz. Fuß auf das Gas um ja nicht den Vorsprung vor der Konkurrenz - dunkles metallic-blau - zu verlieren.
19 Minuten. Beim Einparken nur haarscharf den abgasgeschwärzten Betonpfeiler verfehlen. Die Tür aufreißen, schon auf halbem Weg zum beschmierten Ausgang - gehetzt zurück - Stofftasche greifen - Wagen verschließen.
18 Minuten. Fluchend durch das übel nach Urin stinkende Treppenhaus - dabei gerade noch genug Zeit um gegenüber dem besoffenen Penner die Nase zu rümpfen.
17 Minuten. Endlich aus dem beißenden Mief entkommen, verlorensein in den lärmenden Konsumenten. Das Trampeln der Masse im Kopf - das Schreien der Kinder im Ohr - das Blinken der Anzeigetafeln im Auge. Orientierung?
16 Minuten. Dem rempelnden Strom folgen - den Halt verlieren - mitgerissen werden.
15 Minuten. Karstadt, Rossmann, Edeka, Schlecker, Plus. Sie rauschen vorbei - Blick auf den Eingang: hinein!
14 Minuten. Keine Ruhe, aber Aufatmen von der Menge. Das Piepen und Rasseln der Kassen. Scheppernd den Einkaufswagen durch die engen Gassen drängen. Butter, Milch, Zigaretten.
13 Minuten. Endloses Warten an der Kasse. Erbärmliches Flirten des jungen Kerls mit der russischen Kassiererin.
12 Minuten. Schlechte Witze. Ihr gestelltes Kichern. Antworten in gebrochenem Deutsch.
11 Minuten. Überflüssige Fragen nach Rabattkarten, auch kein Interesse an der großen Sparaktion.
10 Minuten. Hektisch die Einkäufe verstauen. Trotz des blockierenden Rades den Wagen zu den anderen manövrieren.
9 Minuten. Herzklopfen. Das kalte Metall am Griff. Öffnen: Lärm!
8 Minuten. Mütter, Väter, Töchter, Söhne, Rentner. Alle das gleiche Gesicht. In der Ferne die Ausgangstür.
7 Minuten. Links vorbei - Ellenbogen - Rechts vorbei - Magenkuhle - mitten durch - Stolperfalle! Mit Butter und Zigaretten weiter.
6 Minuten. Die geplatzte Milchtüte - Endstation Mülleimer.
5 Minuten. Endlich wieder das flackernde Licht des Treppenhauses. Gestank? Vielleicht ein Hauch von Süßigkeiten! Nicht zum Auto - aufwärts.
4 Minuten. Jede Treppe hat ein Ende. Das Quietschen der Tür - die letzte Station zur Freiheit!
3 Minuten. Schritte an das Geländer - viel zu niedrig um Sicherheit zu bieten. Eine Zigarette - ein Zug - Husten.
2 Minuten. Loslassen - das leichte Glimmen versinkt in der Tiefe. Ein Blick nach unten.
1 Minute. Atmen.
30 Sekunden. Anspannung.
15 Sekunden. Der letzte Schritt? Ein leichtes!
Fünf, vier, drei, zwei, eins... Zeitlos!

Marien Keil's Text (Ausbrechen)



Hallo du da! Kennst du mich noch? Ich bin's, dein Engel, komm doch einmal mit mir. Na los, komm schon, leg deinen Walkman ab und komm mit.
Nimm meine Hand, ich will dir was zeigen. Hörst du das? Diesen Lärm? sieh doch nur, es ist die Baustelle deines Lebens, lass uns doch einmal näher rangehen und schauen, wo du gerade am Bauen bist. Dort ist der Betonmischer, der alle deine Gedanken und Gefühle durcheinander wirft. Dir geht es wohl zur Zeit nicht gut. Lass uns das Gerät eine Stufe tiefer stellen, so dass sich der Beton ausruhen kann. Und? Du fühlst dich schon viel besser, oder? Lass uns nun in die große Grube gehen, die da gebuddelt wurde. MM, ein großes Loch, in dem wir beide sitzen. Etwa deine Seele? Dich schmerzt etwas, das merke ich. Doch diese Grube wird nicht kleiner, es sei denn wir füllen sie etwas auf. Schön viel Sand drauf und noch mehr. So, jetzt kann ich nicht mehr, aber das Loch ist schon viel kleiner geworden. Ich merke, das es dir besser geht. Nächstes Mal schütten wir die Grube ganz zu. Dann lass uns doch mal weiter gehen. Schau nur, der große Kran. Wollen wir nicht einmal hinaufklettern und uns einen Überblick über deine Baustelle verschaffen? Traust du dich nicht? Mach mir nichts vor, du bist doch sonst so mutig. Na also... gleich sind wir oben auf der Plattform. Genießt du den Ausblick? Nicht? Ich auch nicht. Und weißt du warum? Ich sitze täglich und schaue mir die Baustelle an. Und deine Baustelle wird immer größer. Manchmal läuft der Betonmischer auf Hochtouren und es spritzt nur so hinaus und verdreckt die kostbare Erde. Und ich kann leider so selten etwas unternehmen. Auch muss ich mit ansehen, wie die Grube immer größer wird und die Menschen darin herumstochern. Nur wenn du zu mir auf den Kran kommst, findest du etwas Ruhe. Ich kenne dich und deine Baustelle schon dein ganzes Leben lang und immer wieder klopfe ich an deine Tür, um dich zu fragen ob du nicht mit mir auf den Kran steigst. Doch leider hörst du mich so selten. Ich wünsche dir einfach, das du öfter zu mir kommst und mit mir sprichst. Ja, ich wünsche dir das du einfach mal ausbrechen kannst, aus deiner Welt und deiner Baustelle.
Ja, komm doch einfach vorbei, dann reden wir und essen etwas gemeinsam.
Brich doch einfach mal aus.

Dein Engel