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Ein Blick in die Vergangenheit

Am Montag und Dienstag, dem 28. und 29.1.2013, trafen sich die Schülerinnen und Schüler des 10. Jahrgangs nicht wie gewöhnlich zum normalen Unterricht, sondern, um gewissermaßen tatsächlich einen Blick zurückzuwerfen, und zwar in einen ganz bestimmten Teil der deutschen Geschichte. Wie manche von euch vielleicht wissen, findet jährlich am 27. Januar der internationale Holocaust-Gedenktag statt, an dem der Opfer des Nationalsozialismus – in erster Linie Juden – gedacht wird. In diesem Rahmen veranstaltet das KAV-Gymnasium seit 2003 Holocaust-Projekttage, bei denen die Gelegenheit geboten wird, sich näher mit diesem Thema auseinanderzusetzen.

Für uns begannen diese Projekttage also am Montag im Beckmannsaal, wo wir zuerst von Herrn Schmalhorst einige grundlegende Informationen zum ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen bekamen und anschließend zwei Filme sahen, die schon einmal einen ersten Eindruck von den damaligen Zuständen vermittelten: Gewalt, Angst, menschenunwürdige Behandlung. Eindrücke, die jedoch erst ansatzweise das zeigten, was wir später noch zu sehen bekamen. Nach der Einführung im Beckmannsaal begann der Tag für uns nämlich erst richtig: Zusammen mit einigen Lehrern fuhr der gesamte Jahrgang zur Gedenkstätte in Bergen-Belsen.

Im Klassenverband haben alle Klassen sich in unterschiedlicher Reihenfolge die Ausstellung der Gedenkstätte sowie die ehemalige „Rampe“ angesehen. Das war der Ort, an dem damals tausende, ja, zehntausende von Kriegsgefangenen und Juden mit den Zügen ankamen, die sie nach Bergen-Belsen gebracht hatten. Wir rutschten den Weg zur Rampe entlang, teilweise fluchend über die Kälte und das Glatteis, doch als wir an der Rampe ankamen, war das erst einmal vergessen. Unser Betreuer von der Gedenkstätte zeigte uns unter anderem einen dort aufgestellten, nachgebauten Transportwaggon eines Güterzugs, in dem die Gefangenen oft tagelang unter schlimmsten Verhältnissen eingepfercht waren. Markierungen auf dem Boden zeigten an, wie viel Platz eine einzelne Person ungefähr noch hatte, wenn der Waggon mit 80 bis hin zu 100 Personen beladen war. Es war ungefähr die Größe von zwei nebeneinandergelegten A4-Papieren, wenn überhaupt. Keine Chance, den einfachsten menschlichen Bedürfnissen nachzugehen und sich nur hinzusetzen, geschweige denn, sich hinzulegen. Man bekam ein Gefühl für die Enge, die dort geherrscht haben muss, auch wenn man sie natürlich nicht nachvollziehen konnte. Trotzdem haben die Schüsse vom nahegelegenen Truppenübungsplatz (irgendwie auch ein komisches Gefühl, dass direkt bei einem solchen Ort – einer Gedenkstätte – wieder Schüsse fallen, wenn auch nur als Übung) gereicht, um den meisten von uns einen Schauer über den Rücken zu jagen. Es machte die Vorstellung des Grauens definitiv realer. Auch die pure Größe der Verladerampe war bemerkenswert, sie unterstrich die Masse an Menschen, die zur Zeit des Nationalsozialismus über diesen Boden gegangen ist. Nach diesem Erlebnis ging es dann für die 10c und die 10d, die die Rampe zuerst besichtigt haben, zurück zum Gebäude der Ausstellung. Von der Rampe bis zum Lager sind es fünf bis sechs Kilometer, die wir mit dem Bus gefahren sind, die von den Gefangenen damals jedoch zu Fuß zurückgelegt werden mussten. Und das, obwohl sie geschwächt, teilweise krank und verletzt waren. Wir hatten ja schon über das Eis auf dem kurzen Weg, den wir zur Rampe zurückgelegt hatten, gemeckert… Abgesehen davon, dass wir dem Wetter angemessene Kleidung trugen. Kein Vergleich also zu damaligen Verhältnissen, und allein die Vorstellung, dass tatenlos bei solchen Märschen zugesehen wurde, weckt Unverständnis.

In der Ausstellung konnten wir schließlich noch viel über die Geschichte Bergen-Belsens herausfinden. Sie ist unterteilt in drei verschiedene Abschnitte, nach der Nutzung geordnet, die im Laufe der Jahre variierte: Zum einen wurde Belsen bis 1945 als Kriegsgefangenenlager, vor allem für sowjetische Gefangene, genutzt; ab 1943 schließlich auch als Konzentrationslager. Nach dem Kriegsende 1945 bzw. der Befreiung des KZs am 15. April 1945 durch das britische Militär wurde es noch ein paar Jahre als sogenanntes „Displaced Persons Camp“ verwendet. Hierbei handelte es sich um eine vorübergehende Unterbringungsmöglichkeit für ehemalige Gefangene, die außerhalb Deutschlands beheimatet waren, jedoch nicht aus eigener Kraft zurückkehren konnten. Im gesamten Ausstellungsgebäude finden sich Tafeln mit Text, Exponate und Medienstationen. Hier konnten wir uns in Interviews die persönlichen Geschichten einiger Überlebender des Konzentrationslagers anhören. Besonders deutlich wurden hierbei die unterschiedlichen Herangehensweisen der Zeitzeugen an das Erlebte: Während manche viel über die schrecklichen Zustände erzählt haben, fast schon humorvoll an die Dinge herangegangen sind, haben andere die Erlebnisse offenbar nie wirklich verarbeitet und wenig erzählt, waren teilweise den Tränen nahe oder konnten gar nicht erst weitersprechen. Das zeigte uns, wie sehr die Menschen damals gelitten haben müssen, und wir konnten uns das Grauen und die Angst, die damals herrschte, besser vorstellen. Andererseits kam das unendliche Glück zum Ausdruck, das die Gefangenen empfunden haben, als sie befreit wurden. Dann wiederum schockiert aber auch die Vorstellung, dass selbst nach der Befreiung des Lagers noch sehr viele Menschen an Krankheiten und Schwäche gestorben sind. Kann man sich diesen Zwiespalt heutzutage noch vorstellen? Man kann es nicht. Und vielleicht will man es auch gar nicht.

Die Exponate in der Ausstellung bestanden größtenteils aus einfachen, alltäglichen Dingen. So fanden sich kleine Dosen, Kleidungsstücke und Kochutensilien. Für die Menschen, die damals ins Konzentrationslager deportiert wurden, waren sie jedoch die einzigen persönlichen Besitzstücke, etwas, das für sie eine immense Bedeutung hatte. Schließlich wurde den meisten Gefangenen alles, was sie besaßen, abgenommen. Besonders aufgefallen ist manchen von uns auch eine Kamera, die ins Lager geschmuggelt wurde. Hatte der Besitzer dieser Kamera vor, die brutalen Zustände im Lager der „Außenwelt“ zugänglich zu machen? Wir können es nur vermuten. Etwas, das die meisten von uns getroffen hat, waren die Erkennungsmarken der Gefangenen. Nur ein Plättchen mit einer Nummer. Ein lebender Mensch mit allen seinen Charakterzügen und Eigenarten reduziert auf nichts anderes als eine Nummer. Woher nehmen Menschen das Recht, sich dermaßen über andere Menschen zu stellen? Dafür gibt es keine Erklärung. Ebenso wenig wie für das, was wir auf den Bildern und im Film gesehen haben: Abgemagerte Menschen in einem miserablen Zustand, die misshandelt und getötet wurden. Leichen, mit denen so respektlos umgegangen wurde, als wären sie irgendwelche Gegenstände – Berge von Leichen. Insgesamt sind in Bergen-Belsen ungefähr 70000 Menschen umgekommen. Das ist die heutige Einwohnerzahl von Celle, eine Zahl, die man sich kaum vorstellen kann.

Im Gegensatz zu den anderen Klassen hatte die 10d dann auch noch die Gelegenheit, sich das ehemalige Gelände mit der Hauptlagerstraße anzusehen. Es stehen keine Baracken mehr, man sieht nur noch ein großes, mit Bäumen umwachsenes, bei unserer Begehung schneebedecktes Feld. Wenn man sich die Bilder vor Augen führt, die wir vorher und nachher gesehen haben, dann kann man sich die Enge und den Schmutz im ehemaligen Lager ansatzweise vorstellen, aber das ist es eben: Ansatzweise. Wir können versuchen, uns in die Gefühle der damaligen Gefangenen hineinzuversetzen, aber wenn man nie ein solches Grauen erlebt hat, sind sie schwer nachzuvollziehen. Und vielleicht will man das auch einfach nicht. Was man allerdings vor Augen hatte, waren die wahnsinnigen Dimensionen des Lagers. Eine lange Wiese, daneben riesige Massengräber. Eine komische Vorstellung, dass man nun über denselben Boden geht, auf dem zur Zeit des Nationalsozialismus so viel Unheil angerichtet wurde, der jetzt jedoch beinahe friedlich wirkt.

Mit all diesem Eindrücken im Gepäck ging es dann gegen Abend zurück nach Celle, wo wir am nächsten Tag als erstes die gestrigen Erlebnisse besprachen und diskutierten. Anschließend fanden verschiedene Workshops zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust statt. Eine der Gruppen besichtigte die Celler Synagoge und lief anschließend entlang einiger sogenannter Stolpersteine, die zum Gedenken an einige Opfer des Nationalsozialismus in den Boden eingelassen wurden, durch die Celler Innenstadt. Währenddessen fanden gleich drei Workshops zur aktuell bestehenden rechtsextremistischen Szene statt. Hier trugen Referenten von Staatsschutz, Verfassungsschutz und Jugendschutz vor. Es ging unter anderem um die aktuellen Bestrebungen und Erscheinungsformen des Rechtsextremismus und Strategien der Rechtsextremisten, Jugendliche für sich zu gewinnen. Es werden sämtliche Medien genutzt, um verschiedene Altersgruppen zu erreichen; und so bleibt eine Konfrontation kaum aus. Doch wenn man nun daran denkt, welche Eindrücke wir in Bergen-Belsen gewonnen haben, dann geht man mit einer ganz anderen Sichtweise an die „Werbung“ der rechtsextremistischen Szene heran, und letzten Endes waren wir uns alle einig: So etwas wie in Bergen-Belsen darf nie wieder passieren. Damit beschäftigte sich auch der Workshop „Erinnern, Vergessen, Verschweigen – Zum Umgang mit der Shoa“. Wir versuchten, Wege zu finden, um derartige Geschehnisse künftig zu verhindern. Nachdem wir einige Texte des Philosophen Adorno – zur Kälte in der Gesellschaft, Erziehung zur Härte und Neigung zur Gewalt durch fehlende Bildung – gelesen hatten, kamen wir zu dem Schluss, dass man vor allem Vorurteile abbauen und mehr Individualität schaffen muss. Hierdurch könnte das Miteinander unter den Menschen verbessert werden. Des Weiteren gab es einen Workshop, der sich mit der künstlerischen Gestaltung der Zeit des Nationalsozialismus in Form von Denkmälern beschäftigte. Es wurde zum Beispiel der „Black Garden“ behandelt, der mit seinen schwarzen Pflanzen einen Eindruck der Trauer vermitteln soll.

Die Ergebnisse dieser Workshops sowie die Eindrücke der einzelnen Klassen aus Bergen-Belsen wurden schließlich im Beckmannsaal vorgetragen. Hier hatten wir dann also auch die Gelegenheit, etwas über die Meinungen der anderen und die Themen, mit denen wir uns nicht beschäftigt hatten, zu erfahren. Und nach einen mehr oder weniger kleinen Verspätung wurden wir von Herrn Schmalhorst alle nach Hause entlassen. Letztendlich denke ich, dass diese Projekttage für uns sehr wichtig waren, schlicht und einfach, um zu versuchen, zu verstehen – oder vielleicht auch teilweise nachempfinden zu können. Wir alle mussten uns mit den weniger schönen Seiten der deutschen Geschichte beschäftigen und haben die Gelegenheit bekommen, intensiv über alles nachzudenken und zu diskutieren. Außerdem haben wir erkannt, wie wichtig es ist, den Holocaust nicht zu vergessen, sondern im Gedächtnis zu behalten, welche grausamen Dinge geschehen sind; oder besser: Welche Grausamkeiten Menschen von anderen Menschen zugefügt wurden. Es waren keine schönen Projekttage in diesem Sinne – natürlich nicht – aber es waren erkenntnisreiche, nachdenklich machende und für die meisten sicherlich auch bewegende Projekttage. Schließlich möchte ich an dieser Stelle auch noch einmal sagen: Danke an das KAV für die gesamte Organisation der Holocaust-Projekttage und dafür, dass Sie uns das ermöglicht haben!