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Einmal um die halbe Welt - Wohin dieser Weg euch führen kann

Dreiundzwanzig Grad. Keine Wolke steht am Himmel. Die Sonne wärmt das türkisblaue Wasser des Südpazifiks auf eine angenehme Temperatur zum Schwimmen und die Palmen werden von einer sanften Brise umspielt. Am weißen Sandstrand räkeln sich einige junge Leute auf ihren Strandlaken, während Eltern mit aufgeregt juchzenden Kindern nach Muscheln suchen oder im flachen Wasser planschen. Auf den felsigen Klippen zu beiden Seiten stehen die Pohutukawa-Bäume in voller Blüte, feuerrot und dunkelgrün. Man nennt sie nicht umsonst auch die neuseeländischen Weihnachtsbäume. Draußen in der Bucht, vor dem malerischen Hintergrund der Vulkaninsel Rangitoto Island, trainiert derweil der örtliche Segelclub für die Regatta nächsten Monat. Und das Beste daran? Das Ganze ist kaum zehn Minuten Fußmarsch von unserem Haus entfernt!

„Wohnen, wo andere Urlaub machen“ heißt das Motto meines Au Pair-Aufenthaltes in Neuseeland. Insgeheim hatte ich ja schon lange davon geträumt, irgendwann mal hierherzukommen; und nachdem ich dieses Jahr mein Abi am KAV gemacht hatte, ging es dann endlich los, kopfüber in das neue Leben bei einer Gastfamilie am anderen Ende der Welt. Seit August bin ich jetzt hier in Auckland, der größten Stadt in Neuseeland. Unter der Woche kümmere ich mich um die beiden kleinen Kinder der Familie, ein fünfjähriges Mädchen und einen zweijährigen Jungen, und helfe im Haushalt mit. An den Wochenenden habe ich in der Regel frei und kann die Zeit nutzen, um das Land zu erkunden.

Wenn man wie ich vorher noch nie so lange im Ausland war, kann das zunächst nicht nur eine aufregende, sondern auch eine erschreckende Erfahrung sein. Eben noch brütete man über seinen langweiligen Hausaufgaben, hatte eine vage Vorstellung davon, demnächst mit der Schule fertig zu sein und dann wohl irgendwie „einen neuen Lebensabschnitt anzufangen“, wie alle das immer so schön sagen - aber das Einzige, was wirklich auf die Veränderungen im kommenden Jahr hinwies, waren die gelegentlichen E-Mails der Au Pair-Organisation. Dann steht das Abi bevor und auf einmal geht alles ganz schnell: Da wollen Verträge geschrieben und geändert, Visa beantragt, Konten eröffnet, Versicherungen abgeschlossen, Flüge gebucht und das Gepäck geplant werden. Plötzlich scheint die ganze Sache einen Riesenschritt näher gerückt zu sein, die Vorfreude steigt, aber genauso wachsen auch die Zweifel an der Entscheidung. Ehe man es sich versieht, sitzt man schon voller gespannter Erwartungen im riesigen Airbus A380 und malt sich während des langen Fluges aus, was für ein tolles Jahr das wird, wie super man mit seiner Gastfamilie klarkommen wird, wo man überall hinreisen und wie viele tolle neue Bekanntschaften man schließen wird – schließlich hat man ja schon genug Erfahrungsberichte gehört und es kann nur gut werden.

Leider muss ich euch an dieser Stelle enttäuschen: „Nur gut“ ist mein Aufenthalt hier ganz bestimmt nicht. Gerade zu Anfang habe ich mich leider sehr ins kalte Wasser geworfen gefühlt, war mit der ganzen Situation überfordert und so aufregend es auch war, hier zu sein, wollte ich doch eigentlich wieder nach Hause. Ich hatte und habe leider immer mal wieder Probleme mit meiner Gastfamilie und war hoffnungslos überfordert damit, alles selbst zu organisieren. Die meisten von euch haben sicher schon andere Leute kennengelernt, die ein Auslandsjahr – in welcher Form auch immer – gemacht haben, und vermutlich durchweg positive Rückmeldungen gehört. Ich will niemanden entmutigen, aber eine Tatsache würde ich gerne mal betonen, und zwar, dass niemand ausnahmslos zufrieden mit seinem Auslandsaufenthalt ist. Jedenfalls gilt für mich und für die meisten anderen, die ich hier getroffen habe: Wir alle haben manchmal Heimweh und wir alle freuen uns schon darauf, endlich wieder zuhause zu sein. Lasst euch nicht täuschen – man ist eben trotz allem nicht plötzlich von jetzt auf gleich erwachsen, nur weil man einen langen Weg in einem Flugzeug fliegt oder zum ersten Mal eine Unterschrift unter einen Arbeitsvertrag setzt. Es erfordert eine ganze Menge Mut und Selbstbewusstsein, fernab der Heimat bei fast fremden Leuten einzuziehen und sich komplett an deren Lebensstil anzupassen. Speziell als Au Pair ist man auch das erste Mal in seinem Leben in einer Situation, in der man die Bedürfnisse anderer kompromisslos über die eigenen stellen muss, weil man von der Rolle als „Kind“ in der Familie zu derjenigen eines Erwachsenen wechselt, der selbst Verantwortung für Kinder übernimmt. Das kann, wie ich erfahren habe, manchmal schwerer sein, als es klingt.

Ich spreche das so deutlich aus, weil viele dazu neigen, über ihre Auslandserlebnisse ins Schwärmen zu geraten und dabei negative Seiten außen vor zu lassen. Ich persönlich hätte mir gewünscht, bevor ich hergekommen bin, etwas differenzierter davon zu erfahren, was mir wohl bevorstehen mag. Gleichzeitig gebe ich all den begeisterten Reiseberichten, die ich gehört habe, aber ausnahmslos recht: Allein in meinen ersten drei Monaten hier habe ich ein paar der besten, schönsten und wichtigsten Erfahrungen meines Lebens gemacht und ich stimme jedem zu, der sein Auslandsjahr als die beste Zeit bezeichnet, die er je erlebt hat.

Neuseeland, diese kleine, seltsame Insel, die sich so wacker am Rand des riesigen Ozeans hält, gehört ohne Zweifel zu den schönsten Orten überhaupt. Dieses Land braucht keine eindrucksvollen Bauwerke oder Megastädte, um außergewöhnlich zu sein, denn allein die neuseeländische Naturlandschaft selbst ist schon seine größte Sehenswürdigkeit. Manche Leute hier sagen: Als Gott die Welt schuf, hatte er am Ende noch ein kleines bisschen Platz übrig, und so machte er ein Land, in dem er die schönsten Landschaften aller anderen Länder vereinte, und erschuf dadurch Neuseeland. Zuerst dachte ich, diese Geschichte wäre wohl schon ein wenig klischeehaft überzogen, aber inzwischen verstehe ich, wo sie herkommt. Von weißen und schwarzen Sandstränden mit hellblauem Meer und Palmen über raue, felsige, stürmische Klippen bis hin zu urtümlichen Vulkanlandschaften, Geysiren und heißen Quellen, von exotischen Regenwäldern über traumhafte Fjorde und Binnenseen bis zu gewaltigen Gebirgen und Gletschern – Neuseeland hat so ziemlich alles. Natürlich gibt es auch anderswo schöne Ecken, aber man kommt nicht umhin, anzuerkennen, dass dieses Land etwas ganz Besonderes ist.

Das hat sich wohl mittlerweile herumgesprochen, denn man trifft hier unglaublich viele Reisende, besonders Deutsche. Deshalb macht das Umherreisen umso mehr Spaß, das ganze Land lebt natürlich vom Tourismus und an jeder Ecke werden die verrücktesten Aktivitäten angeboten, sei es Zorbing, also in einer riesigen Plastikkugel einen Berg hinunterrollen, Skydiving, Bungeespringen oder Sandsurfen. Auch Unterbringung und Transportmöglichkeiten findet man entsprechend unproblematisch und kann somit jederzeit schnell auch mal nebenher einen Wochenendtrip organisieren, der Erinnerungen fürs Leben bietet. Da die meisten jungen Leute hier das gleiche Ziel haben wie man selbst, nämlich möglichst viele Eindrücke zu sammeln und eine fantastische Zeit zu haben, ist die Stimmung und Gemeinschaft unter internationalen Reisenden eigentlich immer toll; alle sind herzlich und offen zueinander und man wird von Leuten, die man noch nie gesehen hat, oft sofort wie ein enger Freund behandelt. Ich glaube, es ist fast unmöglich, hier während eines Auslandsjahres keine neuen Freundschaften zu schließen.

Dazu kommt die Einstellung der Neuseeländer selbst, die nicht nur untereinander stets freundlich und höflich sind, sondern vor allem auch Ausländern gegenüber unglaublich aufgeschlossen. Die Kiwis, wie sie sich selbst nennen, sind stolz auf ihr Land und freuen sich über jede Gelegenheit, einem Besucher dessen Eigenheiten näherzubringen. Anders als andere Nationen, die auf eine Geschichte des Aufeinandertreffens von Ureinwohnern und Siedlern zurückblicken, betrachten die Kiwis die Maori, die ersten Menschen, die Neuseeland besiedelt haben, nicht mit hochgezogener Augenbraue. Hier redet man weder voller Scham noch Verachtung über die Polynesier, im Gegenteil: Die Maori-Traditionen werden stets voller Respekt behandelt und erfreuen sich gerade unter der neuseeländischen Jugend einer großen Beliebtheit. Auch ansonsten käme niemand auf den Gedanken, die nationalen Besonderheiten, für die Neuseeland so berühmt ist, anders als voller Stolz zu sehen; sei es die erfolgreiche Rugby-Nationalmannschaft, die gerade zum dritten Mal in Folge Weltmeister geworden ist, die florierende Filmindustrie, die spätestens seit dem „Herrn der Ringe“ zu den größten der Welt gehört, seien es die Elemente der facettenreichen Geschichte des Landes oder sei es eben die außergewöhnliche Natur. Obwohl man sich hier also vollkommen darüber bewusst ist, auf einem besonders schönen Fleckchen Erde zu leben, und daraus auch keinen Hehl macht, sind die Menschen keineswegs eingebildet oder gar herablassend, sondern jederzeit an anderen Kulturen und jedem individuellen Besucher interessiert. „Ich teile meine Welt mit dir, also möchte ich auch etwas über deine wissen“, scheint die unausgesprochene Devise zu sein. Ständig werde ich gefragt, wo ich herkomme, warum und wie lange ich hier bin, was mir am besten gefällt, was für Pläne ich noch habe, wie es in Deutschland so ist und was immer man einen internationalen Besucher noch fragen kann. Das gehört zu den Dingen, die mir am besten gefallen – es ist wunderschön, sich hier so willkommen zu fühlen, als würde jeder einen am liebsten sofort aufnehmen. Ihr seht, auch ich komme jetzt ins Schwärmen…

Es ist zugegebenermaßen schwer, das zu vermeiden. Ich könnte noch Stunden von meinen Erfahrungen hier erzählen, aber ich möchte eure Zeit nicht überstrapazieren. Wenn ihr neugierig geworden seid, meldet euch gerne auf Facebook oder per E-Mail bei mir. Ansonsten bleibt mir nur, euch denselben Rat zu geben, den euch jeder geben wird, der ein Auslandsjahr macht: Go for it! Ihr habt später noch genug Zeit für Studium, Ausbildung und Arbeit – nutzt die Chance, vorher ins Ausland zu gehen. Wie gesagt ist es nicht immer so leicht, wie man gerne denken würde; auch im schönsten Land der Welt hat man mit Heimweh zu kämpfen, wenn es nun mal so weit weg ist. Vielleicht werden die ersten Wochen hart, so ging es mir jedenfalls, aber gebt deswegen nicht auf. Ich persönlich bin allein in diesen drei Monaten so viel erwachsener und selbstbewusster geworden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte, und ich möchte schon jetzt keine der vielen neuen Erfahrungen mehr missen. Ich habe bisher zwar viel über Neuseeland gelernt, aber am allermeisten über mich selbst. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle auch einmal von Herzen bei allen bedanken, die mich ermutigt und es mir ermöglicht haben, diese Reise zu machen, und damit Teil einer der besten Entscheidungen meines Lebens geworden sind. Wenn ich eines inzwischen mit Sicherheit sagen kann, dann Folgendes: Der kürzeste Weg zu dir selbst führt um die halbe Welt. Trau dich, ihn zu gehen!