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Eulen nach Kassel tragen? Exkursion der Kunst-Oberstufenkurse des KAV zur documenta 14

Ob ein Besuch der Kunstausstellung documenta 14 im Sinne der vom griechischen Dichter Aristophanes geprägten Redewendung von den Eulen überflüssig oder gar unsinnig ist, konnten die Schülerinnen und Schüler der Kunstkurse im 11. und 12. Jahrgang des KAV bei einer Exkursion nach Kassel am 24. 08. 2017 in Begleitung von Herrn Karrasch, Frau Kopka, Frau Kleine und Frau Schillat herausfinden.
Ein Bezug zu Griechenland ergab sich hierbei aus dem neuen Konzept der 14. documenta, die 2017 erstmals an zwei Schauplätzen, nämlich in Athen und Kassel stattfand und von ihrem Chefkurator Adam Szymczyk unter das Motto „Von Athen lernen“ gestellt wurde. Schließlich denken wir an Athen als Wiege unserer europäischen Kultur, Geburtsort der Demokratie, Philosophie und der Tragödie, war Athen 2010 Schauplatz einer herausfordernden Finanzkrise und ist in der griechischen Kultur eine besondere Gastfreundschaft verwurzelt, deren Gesinnung sich auch in verschiedenen künstlerischen auf der documenta vertretenen Ansätzen widerspiegelt.
Wie dringend wir es offenbar nötig haben zu lernen angesichts eines verhängnisvollen Weltzustands, machte der künstlerische Leiter der documenta in einem Essay deutlich, der im Reader zur Ausstellung erschien und den Neoliberalismus als Grundübel unserer Zeit benennt. In ihm ist die Rede von einer „neokoloniale[n], patriarchale[n], heteronormative[n] Ordnung der Macht und des Diskurses“, die den „unentrinnbaren Rahmen“ der Gegenwart bilde. Einen Ausweg aus dieser düsteren Lage soll offenbar die Kunst aufzeigen oder zumindest die Menschen darauf drängen sich mit ihr auseinanderzusetzen und selbst Wege zu finden.
Eine entsprechend beklemmende Stimmung vermittelte sich den Besuchern bereits vor dem Betreten des ursprünglichen Hauptausstellungsgebäudes, dem Fridericianum, an dessen Fassade die Künstlerin Banu Cennetoglu die eigentliche Inschrift durch den Schriftzug „Being safe is scary“ ersetzt hat. In wie fern uns unsere vermeintlich sichere Lage im freiheitlichen, friedlichen, wohlhabenden Europa als beängstigend erscheinen könnte, wird im Kontext der örtlichen Konstellation aufschlussreich von der Rahmung des Friedrichsplatzes durch Betonbarrieren untermalt, die verhindern sollen, dass das vielbesuchte Gelände zum Anschlagsziel wird.
Etwas freundlicher empfing unsere Schülerinnen und Schüler im Eingangsbereich des Fridericianum eine bunte Videoprojektion des Künstlers Nikos Alexiou. Die in Bewegung versetzten leuchtend farbigen Ornamente erinnern zunächst fast an eine Art Diskokugel und es bedarf einer zusätzlichen Erklärung um zu verstehen, worum es dem Künstler in seinem Werk geht. Die Arbeit trägt den Titel „The End“ und ist durch das aus dem 11. Jahrhundert stammende marmorne Bodenmosaik des Klosters Ivirion inspiriert. Alexiou durfte das streng orthodoxe, nur Männern zugängliche Kloster auf dem Berg Athos 1995 besuchen und widmet sich seitdem dem akribischen und obsessiven Kopieren, Wiederholen, Übersetzen und Neugestalten der Wirbel des Marmorbodens mit natürlichen Materialien und digitalen Medien. Die gezeigte Videoprojektion besteht aus einer austauschbaren Matrix, die die Farbkombination der Mosaikdetails generiert. Aus der beständigen Drehung ergeben sich immer neue Gruppierungen von Grundformen euklidischer Geometrie, die als Untersuchung einer geheimnisvollen und harmonischen Ordnung eine eigenartige Kosmologie darstellen. Darüberhinaus kann die Arbeit auch als eine Einladung verstanden werden, an der Schönheit eines sonst nur wenigen männlichen Klosterinsassen vorbehaltenen Kunstwerks viele Interessierte sozusagen demokratisch teilhaben zu lassen, um sich daran zu erfreuen.
Nach dem gemeinsamen Start des Ausstellungsbesuchs trennten sich im Fridericianum die Wege und die Schüler hatten Gelegenheit, sich in Kleingruppen eigenständig die Exponate anzusehen. Um in Anbetracht der großen Auswahl an internationaler Gegenwartskunst auf der größten Kunstschau der Welt nicht den Überblick zu verlieren, wurden sie allerdings mit einem vorbereiteten Aufgabenblatt ausgerüstet, das 5 unterschiedliche Kunstwerke auswählt, mit denen sich eine nähere Beschäftigung besonders lohnt.
Eine dieser Arbeiten war z. B. das Video „The Raft“ des amerikanischen Künstlers Bill Viola, das in einer Zeitlupensequenz zeigt, wie eine zufällig zusammengekommene Menschenmenge von wiederkehrenden heftigen Wasserstrahlen terrorisiert wird. Die verlangsamte Wiedergabe dieser inszenierten Naturkatastrophe erlaubt eine genaue Beobachtung der individuellen Verhaltensweisen vor und nach ihrem Eintreten und macht nachdrücklich deutlich, wie sie die Menschen und ihre gegenseitige Wahrnehmung verändert.
Großen Eindruck machten auf viele Betrachter im Fridericianun auch zwei großformatige Ölmalereien des Griechen Dimitris Tzamouranis mit dem Titel „36° 45 `N-021° 56E“. Beide Leinwände zeigen ein dunkel aufgewühltes Meer, in dem sich hohe Wellen brechen in minutiös ausgearbeiteter Detailgenauigkeit. An diesen Arbeiten aus dem Jahr 2015 ist aber schließlich nicht nur die souveräne technische Ausführung respekteinflößend, sondern auch das vom Künstler gewählte Motiv einer gewaltigen, unbeherrschbar zerstörerischen See, das vor dem Hintergrund der zur Entstehungszeit akut hohen Flüchtlingswelle gesehen werden muss, brisant.
Das Thema der Flüchtlingskrise war in vielen künstlerischen Arbeiten der documenta gegenwärtig und begegnete den Schülern auch in der documenta-Halle mit den malerischen und grafischen Arbeiten der Schweizerin Miriam Cahn. Für ihre intensiven Darstellungen von Menschen, die Flucht und Vertreibung erfahren, formulierten die Schüler, wie auf dem Aufgabenblatt gefordert, eigene Titel, die z. B. „Entblößt“, „Schrecken“ oder „Blick“ lauten. In sich darum entwickelnden Begriffsnetzen benennen sie Wirkungen, die sich dem Betrachter unmittelbar mitteilen wie Schmerz, Verzeiflung, Angst, Gebrochenheit, Ausgeliefertsein, Trauer, Wut und Verlorenheit. Die Künstlerin selbst bezeichnet ihren schmerzvollen Zyklus als „Koennteichsein“ und spricht damit ganz direkt die Identifikation an, um die es ihr geht. Diese kommt auch in der vergleichsweise dichten Hängung und Präsentation in einem bewusst klein gewählten Ausstellungsraum zum Ausdruck, in dem es dem Besucher schlicht nicht möglich ist, eine größere Distanz zu den Gezeigten aufzubauen, weil es  an Platz mangelt. Wer hier verweilt, muss die offenbarten Schicksale unweigerlich näher an sich heran lassen.
Eines der umgekehrt raumgreifendsten Werke der documenta stammte von der argentinischen Pop-Art-Diva Marta Minujin. Mit seinen 70 Metern Länge, 30 Metern Breite und 14 Metern Höhe erstreckte sich ihr „Parthenon der Bücher“ in dem griechischen Original genau entsprechender monumentaler Größe direkt vor dem Fridericianum an dem Platz, wo in Kassel zur Zeit des Nationalsozialismus Bücherverbrennungen stattgefunden hatten. Minujins Tempel der Weisheit besteht aus unzähligen gespendeten Büchern, die an irgendeinem Ort der Welt irgendwann einmal der Zensur unterlagen oder unterliegen und auf einem staatlichen Index stehen. Darunter finden sich die verschiedensten Titel von den „Abenteuern des Tom Sawyer“, über Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ bis zur Bibel und verschiedenen Ausgaben von „Harry Potter“. Das Konzept der Künstlerin sieht vor, dass die Fertigstellung des Parthenon von der Mitwirkung zahlreicher Spender abhängt und es nach seinem Abbau am Ende der documenta dadurch aufgelöst wird, dass sich wiederum beliebige Interessierte an den einzelnen zur Verfügung gestellten Büchern bedienen. Minujins Werk erfreute sich beim Publikum großer Beliebtheit: das politisch bedeutsame fortwährend aktuelle Thema staatlicher Zensur wird hierin so anschaulich umgesetzt, dass es sogar begehbar wird und sich darin immer neue zum Teil verblüffende Titel entdecken lassen. Eine geradezu magische Wirkung entfaltet das Büchergebäude nach Anbruch der Dämmerung, wenn es künstlich beleuchtet wird und die Metaphorik der Säulen des Wissens mit der des Lichts verbindet. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass der vielbeachtete Tempel sich nach seiner Zerlegung in einen aus ökologischem Blickwinkel betrachtet bedenklichen Haufen Plastikmüll verwandelt, da die Bücher in Unmengen durchsichtiger Kunststofffolie gezeigt werden.
Resümierend kann man vielleicht festhalten, dass neben einigen aussagekräftigen und problemlos rezipierbaren Kunstwerken auch Ausstellungsstücke auf der documenta vertreten waren, die für einen unbedarften Besucher nur schwer zugänglich waren und kaum mehr als Irritation oder sogar Ablehnung auslösen konnten. Auch der programmatische Ansatz der documenta 14 lässt Fragen offen: Ist Kunst wirklich einem konkreten Zweck unterworfen? Ist sie darauf beschränkt, den Menschen eine Lehre darzubieten oder anzuklagen, selbst wenn es darum geht, sie über das Unrecht und die Missstände zu unterrichten, die wir Kapitalismus, Sexismus, Neoliberalismus, Chauvinismus, Imperialismus, Kolonialismus, Faschismus, Militarismus, Rassismus und Populismus zuschreiben? Muss Kunst etwas müssen?
Wenn dem so wäre und Kunst somit berechenbar wäre, weil von vornherein feststünde, in welcher Weise und mit welchen Konsequenzen sie Menschen berührt, dann würden wir mit einer Exkursion zur documenta wohl wirklich Eulen nach Kassel tragen.
Da die Begegnung mit Kunst, vor allem mit Originalwerken, jedoch noch ganz andere, offene Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten bietet, die Chance sich ein eigenes Bild zu machen, Atmosphären wahrzunehmen, Fragen aufzuwerfen, Begeisterung zu empfinden, Bedenken zu äußern und darüber auch mit anderen ins Gespräch zu kommen, um sich einen eigenen Eindruck davon zu machen, was die Kunst unserer Gegenwart über uns selbst, die Art, wie wir leben, empfinden und unsere Welt gestalten, aussagt, darum lohnt es sich letztlich doch in jedem Fall, einen Schritt aus der Schule herauszutun und mit Schülerinnen und Schülern nach Kassel zu fahren.