Abruf

Matti in Afrika

Wenn man nach Äthiopien fährt, ist das wie eine Zeitreise, jetzt mal abgesehen davon, dass hier ein anderer Kalender benutzt wird, der dem Unseren ein paar Jahre hinterherhinkt.

In Addis Abeba, der Hauptstadt, die man als einreisender Europäer zwangsläufig besucht, weil hier der einzige internationale Flughafen Äthiopiens ist, fühlt man sich noch fast wie in der Gegenwart. Nur die ungewöhnlich hohe Anzahl an alten Autos lässt erahnen, dass sich das bald ändern wird.

Sobald man Addis ein bisschen hinter sich lässt, lässt man so einige andere Dinge hinter sich: Hochhäuser, Asphalt, Burger, neue Autos, Pizza, Supermärkte, und, und, und...

Natürlich gibt es auch noch andere große Städte in Äthiopien, in denen man diese Dinge findet, aber in dem Ort, in dem ich die letzten vier Wochen gewohnt habe und noch die kommenden sieben Wochen verbringen werde, gibt es all diese Dinge nicht. Na gut, ab und zu verirrt sich auch mal ein Auto hierher, das weniger als 200.000km und 20 Jahre auf dem Buckel hat.

Hier, das ist genauer gesagt Alem Ketema, ein 20.000-Einwohner-Städtchen ca. fünf Stunden und 200km nördlich von Addis. Hier gibt es verglichen mit anderen Städten Äthiopiens dieser Größenordnung erstaunlich viel: Eine Schule, zwei Kindergärten, eine Bibliothek und ein Krankenhaus. Das Meiste dank der Stiftung Menschen für Menschen (kurz MfM) und der Gemeinde Vaterstetten bei München, welche seit fast 20 Jahren Partnerstadt von Alem Ketema ist.

Der Weg von Addis nach Alem Ketema fühlt sich an wie eine Reise durch eine andere Zeit: In all den kleinen Dörfern sieht man Bauern mithilfe von Ochsen die Felder pflügen, kleine Kinder, die in Deutschland noch nicht einmal zur Schule gehen würden, das Vieh hüten oder Wasser holen. Autos sieht man hier kaum noch, alles wird von Menschen oder Eseln getragen, und Strom und Wasser aus der Leitung gibt es nur in den wenigsten Ortschaften.

Die Geschichte, wie ich hierhergekommen bin, ist relativ lang, aber ich versuche das mal ein bisschen abzukürzen. Nach dem Abi habe ich mich erst mal ein bisschen ausgeruht und erst spät überlegt, was ich eigentlich machen will. Dass ich einmal Medizin studieren will, stand für mich schon lange fest, nur, um direkt starten zu können, ist nun einmal ein sehr gutes Abi nötig, welches ich nicht hatte. Deswegen brauchte ich etwas für zwischendurch. Einfach mal weg ist ja immer keine schlechte Idee und etwas Medizinisches sollte es auch sein, aber die Idee und mein Engagement, diese Idee umzusetzen, kamen leider etwas zu spät: Alle Bewerbungsfristen für freiwillige soziale Jahre und Halbjahre im Ausland waren schon lange verstrichen. Deswegen musste ich mich privat um irgendetwas bemühen, was letztendlich über die Ärzte am Neumarkt und deren Kontakt nach Alem Ketema geklappt hat. Während ich all das geplant habe, konnte ich ja schlecht die ganze Zeit zu Hause herumsitzen, deswegen habe ich mich kurzfristig dazu entschieden, eine dreimonatige Ausbildung zum Rettungssanitäter zu machen, was im Nachhinein betrachtet die beste Entscheidung war, die ich hätte treffen können, weil ich sonst hier im Krankenhaus absolut nichts verstanden hätte.

Aber nun zu meiner Zeit hier: Ich wohne hier im Krankenhaus bei dem Chefarzt Dr. Ayele und begleite ihn die meiste Zeit durch seinen Arbeitsalltag. Er ist ausgebildeter Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe, behandelt aber grundsätzlich alles, von dem er auch nur ein bisschen Ahnung hat oder irgendetwas in Büchern finden kann: Von der ausgerenkten Schulter über faule Zähne bis hin zum psychischen Problem, von 0 bis 99 Jahren. Außerdem ist er der einzige Chirurg hier, weswegen ich ihm auch an zwei Tagen in der Woche in dem erstaunlicherweise sehr gut ausgestatteten Operationssaal assistieren darf. Zusätzlich zu seiner Arbeit hier im Krankenhaus betreibt er seit wenigen Monaten noch eine private Praxis, um noch mehr Menschen untersuchen zu können. Es gibt nämlich mehrere große Probleme, mit denen die Ärzte hier zu kämpfen haben: Erstens ist das Krankenhaus für rund 500.000 Menschen im Umkreis von über 40km zuständig, was mit ca. 70 stationären Betten und den sieben Ärzten unmöglich zu schaffen ist.

Zweitens müssen nahezu alle Patienten zu Fuß hierherkommen, weil kaum jemand ein Auto hat und die Straßen sehr schlecht sind. Wenn ein Patient nicht gehen kann, dann wird er von Freunden und Verwandten getragen, und das teilweise weiter als 40km. Da ist man schon mal einen ganzen Tag zu Fuß unterwegs! (40km entsprechen ungefähr der Strecke von Celle nach Hannover.)

Drittens vertrauen die Menschen immer noch sehr auf ihre traditionellen Heilmittel, welche oftmals eine Verschlechterung der Verletzung oder Krankheit herbeiführen und gleichzeitig die angemessene medizinische Versorgung gefährlich weit hinauszögern.

Natürlich wird versucht, diese Probleme zu beheben: Es werden Health Points mit ausgebildeten Krankenschwestern im Umkreis eingerichtet, es wurden Krankentransportjeeps angeschafft, mit denen Kranke abgeholt werden können, die Straßen werden ständig ausgebessert ( In wenigen Jahren soll auch der Asphalt nach Alem Ketema kommen!) und die Ärzte tun ihr Bestes, um so viele Patienten wie möglich zu behandeln.

Natürlich lerne ich nicht nur viel über die medizinische Situation hier. Überall wo ich bin und wo ich hinkomme, lerne ich ein bisschen was dazu, viele Dinge unterscheiden sich deutlich von Deutschland. Hier wird jeder noch so entfernte Bekannte mit Handschlag begrüßt, alles andere wäre äußerst unhöflich. Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nicht so viele Hände geschüttelt wie im letzten Monat. Ich bin überall zu Gast und kriege, egal wo ich bin, was zu Essen oder zu Trinken angeboten, was mir manchmal echt unangenehm ist, gerade wenn man bei Leuten zu Gast ist, die selber wenig haben und das Wenige dann auch noch mit einem teilen.

Als Weißer ist man so weit weg von großen Städten immer jemand Besonderes, man kann nirgendwo hingehen, ohne dass einem nicht mindestens zehn lärmende und lachende Kinder folgen und die wenigen englischen Worte rufen, die sie kennen („Good morning!“, „Whats your name?“, „How are you?“), nur leider verstehen sie nicht, wenn man antwortet, laufen ganz schnell weg und verstecken sich hinter ihren Freunden. Aber auch die meisten Erwachsenen wollen einem mindestens guten Tag sagen und ein bisschen reden, meistens über europäische Fußballmannschaften.

Es gibt noch so viele Dinge und Geschichten zu erzählen, kurze und lange, lustige und auch ein paar traurige, aber das sind die Geschichten, die ich erlebt habe.

Die Dinge, die für euch wichtig sind, sind die Dinge, die ihr selber erlebt. Nach dem Abi habt ihr genug Zeit, also nutzt die Chance!

Was ich hier erzähle, ist nur ein Beispiel, eine Richtung, in die es gehen kann. Mir persönlich haben damals die Berichte von denen, die auch mal über das geschrieben haben, was sie so machen, sehr geholfen, das Richtige für mich zu finden. Ich hoffe, dass ich auch dem ein oder anderen von euch bei seiner Entscheidung helfen kann, wie es nach der Schule weitergehen soll, völlig egal, ob ihr jetzt etwas Ähnliches machen wollt oder genau wisst, dass das nichts für euch ist.

Es gibt so viele Angebote und Möglichkeiten von den verschiedensten Organisationen, da ist für jeden etwas dabei. Ihr müsst euch nur früh genug entscheiden und darum kümmern und bemühen, weil so etwas privat zu organisieren zwar möglich, aber mit sehr viel mehr Stress und Aufwand verbunden ist und man nie genau weiß, ob und wann es wirklich losgeht.

Ich werde meine Zeit hier nie vergessen, die Menschen, die Dinge und die Erfahrungen immer in Erinnerung behalten und hoffentlich in ein paar Jahren noch einmal zurückkommen, vielleicht sogar als ausgebildeter Arzt.

Liebe Grüße aus Alem Ketema von Matti, Abi 2012