Abruf

Sind wir wirklich so blöd?

Interviewer: Sehr verehrter Herr Professor Eckmann …

Eckmann: Bitte, Eckmann reicht völlig!

I: … unsere immer mittwochs erscheinende Zeitung hat im Verlauf des letzten Jahres die Fortsetzungsreihe „Gesichter der Zivilisation“ veröffentlicht. Nachdem wir in der Vergangenheit einen Blick unter anderem in das Wachsen von Großstädten, die Geschichte der Quantenphysik, das Schicksal von Burnout-Opfern und das Abwandern von Grasfröschen geworfen haben, wollen wir nun Sie ans Ende unserer Reihe stellen. Vielleicht erzählen Sie erst mal kurz von sich: Wo kommen Sie her, was waren entscheidende Momente in Ihrem Leben? Wie sind Sie zu dem geworden, der Sie heute sind? Warum beschließen Sie unsere Reihe?

E: Also, ich wurde 1934 in Washington, D.C. geboren – meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Amerikaner. Meine ersten Jahre habe ich in den USA verbracht und habe dort die Grundschule besucht. Das war, soweit ich sie noch erinnern kann, eine glückliche Zeit. Ich weiß noch genau, wie wir immer in unserem Vorgarten gespielt haben. Der hatte so eine hohe Hecke; dahinter habe ich häufig gesessen und die Leute, die vorbeikamen, beobachtet. Mit sieben Jahren musste ich allerdings nach Deutschland ziehen, weil meine Eltern sich trennten und mich meine Mutter mit sich nahm.

I: Und wann kamen die Gesichter ins Spiel?

E: In meiner Doktorarbeit erforschte ich, ob Emotionen erlernt oder angeboren sind. Dabei habe ich mich auf Gesichtsausdrücke konzentriert und zivilisationsferne Urvölker im Regenwald erforscht. Es stellte sich heraus, dass es sieben Grundemotionen gibt, die alle Menschen auf die gleiche Weise zur Schau tragen, zum Beispiel Angst oder Verachtung.

I: Wie sieht denn ein echtes Lächeln aus?

E: Neben dem offensichtlichen Verziehen der Mundwinkel gibt es eine zweite, weniger auffällige oder bekannte Komponente, die in den Prozess des Lächelns involviert ist, nämlich der Ringmuskel, der um die Augenhöhle liegt und nicht willentlich kontrahiert werden kann. Das heißt, ein aufrichtiges Lächeln erkennt man daran, dass sich das untere Augenlid strafft, die Augenbrauen absinken und die Wangenpartie nach oben gezogen sind.

I: Das ist ja hochinteressant. Wenn ich Sie also „nur mit dem Mund“ anlächele, dann wissen Sie, dass ich es gar nicht ernst meine?

E: Sicher. Aber mittlerweile sind diese Feinheiten überflüssig geworden. Das aufrichtige Lächeln ist heute ein Auslaufmodell.

I: Verstehe. Vermutlich wegevolutioniert. Haben Sie das aus Ihren Studien bei Urvölkern am Amazonas geschlossen?

E: Im Gegenteil. Das aufrichtige Lächeln ist dort viel weiter verbreitet. Selbst einfache Zeichnungen von Gegenständen, die in ihrer Kultur positiv besetzt sind, Ähren, Kultobjekte usw., rufen spontane Freudenbekundungen hervor. Und nun schauen Sie sich an, welche Emotionen heute unser Zusammenleben bestimmen. Alles, was ich heute sehe, ist Abneigung, oder entmutigender noch: Ich sehe nichts. Ich begegne Menschen, mit denen ich zusammenarbeite, mit denen ich viel Zeit verbringe, die einigen Einfluss auf mein Leben haben, auf der Straße, auf dem Flur, zufällig: Sie raffen sich zu einem Lächeln auf, gehen an mir vorbei, und noch währenddessen entgleiten ihnen ihre Züge. So sehr quält es sie. In die Augen gesehen haben sie mir nicht. Ich begegne Menschen, die, wenn sie zur Verabredung erscheinen, eine tief betrübte Miene tragen, sich zusammenreißen, ausgesprochen freundlich mit mir reden, sich verständnisvoll zeigen und sich freuen, mit mir arbeiten zu dürfen, aber sobald sie sich zum Gehen wenden, fällt alles Freundliche von ihnen ab. So sehr sind sie innerlich zerrissen. Es gibt auch Menschen, die scheinen aufgeschlossen, interessiert, nehmen Rücksicht, stellen Fragen, aber wenn ich versuche, sie zu beantworten, sehe ich, wie sie auf die nächste Gelegenheit warten, wieder über sich selbst zu reden. Entweder sie brauchen den Anlass, Gespräche auf sich lenken zu können, oder ihr Bemühen um Interesse in den anderen ist aufrichtig, aber eben nur das: ein Bemühen, ein Abmühen. Mit ihnen wird die Konversation zur Pflichtveranstaltung. Ich weiß nicht, was schlimmer ist: die Ahnung, niemanden zu interessieren, oder die Tatsache, sich selbst für niemanden zu interessieren. Vor 20 Jahren habe ich eine Schule gegründet, deren Lehrplan auf meinen Forschungsergebnissen beruhte. Ich dachte, wenn Schüler zur gleichen Zeit intellektuell und emotional geschult werden, dient meine Wissenschaft der Gesellschaft am besten: indem sie selbstbewusste, verantwortungsbewusste, sozial sensible junge Menschen hervorbringt, die nicht nur in einer Informationsgesellschaft navigieren, sondern in einer Menschengesellschaft überleben können. Das Projekt ist vor fünf Jahren gescheitert – zu wenig Interesse, zu wenig Unterstützung. Meine Wissenschaft ist keine Bereicherung, kein Werkzeug, nicht einmal ein aparter Zaubertrick, mit dem man beeindrucken kann. Sie ist ein Fluch. Was Menschen Menschen heute noch an aufrichtigen Emotionen mitzuteilen imstande sind, sei es im Gesicht oder im Wort, ist eine verstümmelte Variante, ein Zurschautragen von Inventarartikeln, die Präsentation eines Repertoires, das für jede Situation die richtige Emotion kennt, aber für keine die aufrichtige. Das Lächeln hat sich nicht wegevolutioniert, wir haben es wegkultiviert. Es gehört nicht zum guten Ton. Positive Menschen, die sich nicht um ihr weinerliches Ego zusammengekauert haben, werden verrissen und hinter ihrem Rücken mit Häme überschüttet. Weil sie eine fremde Sprache sprechen. Aber wissen Sie, was am niederschmetterndsten ist?

I: …

E: Dass jeder einzelne alles tut, um glücklich zu sein, aber keinem anderen das gleiche Recht einräumt.

I: Na, Herr Professor Eckmann, dann sind ja heute scheinbar schlechte Zeiten für Psychologen. Wie sehen denn da Ihre weiteren Forschungsvorhaben aus?

E: Ich habe meine Forschung eingestellt.

I: Haben Sie denn keine Fragen mehr?

E: Ich frage mich, ob es nicht noch Menschen mit nur einem Gesicht gibt.

I: Und die Schule, die Sie gegründet haben?

E: Gescheitert.

I: Vielen Dank für das Gespräch.