Abruf

Transparenz in der Schule (?)

Non scholae, sed vitae discimus. (epist. 106, 12) So der römische Philosoph Seneca im 1. Jhdt. n. Chr. (!). „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Allerdings in ironischer Umkehrung: Non vitae, sed scholae discimus.

Schon im ersten Jahrhundert nach Christus und mit Sicherheit selbst davor schon war die Erziehung und Ausbildung der Jugend ein Streitthema. Das ist sie auch heute noch (PISA, G8, Bildungsabfall, um nur wenige Stichworte zu nennen). Die Frage ist nur: Wo stehen wir heute? Auf der Seite des schönen Sprüchleins, das so gern als Leitsatz humanistischer Gymnasien zum Einsatz kommt? Das würde besagen, dass Schule wenig Gegenwartsbezug vorweisen kann, sondern stets einer höheren, das heißt späteren Sinngebung folgt, somit rein instrumentell gehandhabt wird und nur geringen Selbstwert hat. Oder steht es heute gar umgekehrt, dass also an Schulen die meiste Zeit über unnützes Zeug in die Schülerköpfe gestopft wird, der als Folge daraus irgendwann überquillt, natürlich ohne dass am Ende etwas Anständiges bei der Sache herauskäme? Und überhaupt klingt bei Seneca die zweifelnde Frage hindurch: Hat die Schule überhaupt einen Sinn?

In diesem Rahmen wird dieser Artikel sich zunächst mit der Sinnfrage beschäftigen: Welchen Sinn kann Schule haben?, gefolgt von Überlegungen zur Frage, ob er einem Schüler transparent sein kann oder überhaupt sein sollte. Ausgangspunkt ist immer das Gymnasium; über andere Schulformen möchte ich nicht urteilen, weil ich sie nicht kenne. Ich erhebe mit diesem Artikel keinen Anspruch auf eine Richtigkeit meiner Darstellung, und auch nicht auf die Gültigkeit meiner angeführten Argumente. Die Sinnfrage von Schule und alle Folgen der Beantwortung sind nur subjektiv behandelbar und somit fühlt sich immer jemand in besonderem Maße nicht berücksichtigt. Insofern verhält sich der Artikel wie die Schule selbst. Aber vielleicht kann mein Text als Anregung bei der kritischen eigenen Auseinandersetzung und vielleicht der ganz eigenen Antwortfindung zu den eben gestellten Leitfragen dienen. Ich bedanke mich schon mal bei allen recht herzlich, die mich bei der Arbeit an diesem Artikel durch wertvolle Meinungen und Hinweise unterstützt haben. Soweit ich sehe und in Gesprächen erfahren habe, zerfällt der „Gesamtsinn“ von Schule in zwei Grobteile, deren einer eine rein vergeistigte Idee enthält, der andere eine sozial–interaktive. Der erste bildet die Hinführung zum zweiten. So sei denn mit dem ersten, dem Bildungsaspekt begonnen. Den zweiten und ungleich komplexeren Bestandteil lasse ich in der nächsten Ausgabe in einem eigenen Artikel nachfolgen.

Der Bildungsaspekt der Schule

Wenn ich als Schüler das Wort „Schule“ höre, dann denke ich zuerst an: Noten, (Auswendig)Lernen, Abschreiben, Klausuren. Wenn ich morgens das Gebäude betrete und mich in einen Klassenraum setze, dann selten, weil ich mich mit gerade diesem Fach unbedingt um acht Uhr morgens beschäftigen möchte, sondern weil der Stundenplan es vorschreibt. In der Oberstufe kommt noch die Belegverpflichtung und Abwesenheitsregelung der 0 Punkte hinzu. Schon die Willenskraft, jeden Morgen (viel zu) früh aufzustehen, würde ich wahrscheinlich nicht von allein aufbringen. Wenn ich ehrlich bin, beteilige ich mich am Unterricht häufig weniger aus Interesse als für eine gute mündliche Bewertung in Form einer Zahl, die die Gesamtzahl am Ende möglichst klein halten soll. Selten habe ich Ansporn, etwas um der Sache selbst willen (sei es aus Ehrgeiz, sei es aus Interesse) zu begreifen, sondern mit der nächsten Klausur und im Endeffekt der Note im Auge. In den Stunden muss ich nicht das sagen, was ich denke, sondern was der Lehrer hören will, Hausaufgaben mache ich, weil ich Sanktionen befürchte, nicht, weil ich von ihrem Nutzen überzeugt bin. Der finale Zweck von Schule für mich als Durchschnittsschüler ist der Erwerb von Wissen auf Biegen und Brechen, wobei Individualität möglichst unterbunden wird. Zusammengefasst: Ich konsumiere und wiederkäue im richtigen Moment, also bin ich Schüler. Diese Darstellung ist streitbar, soll dadurch aber gleich zu Beginn in Erinnerung rufen, wie wenig die besten theoretischen Überlegungen dabei helfen, das Schulsystem entweder als gut anzuerkennen oder es zu reformieren, solange sie sich nicht im aktiven Handeln niederschlagen. Darin sehe ich die größte Schwierigkeit, dieses Artikels und überhaupt der Schule: Zu dem, was man sich vorgenommen hat, in der Praxis auch zu stehen, sich überhaupt realistische Ziele zu setzen. Das fordert Elan in der Sache, Durchhaltevermögen, Kritikfähigkeit gleichermaßen wie Überzeugung (und Unterstützung). Viele gute Ideen scheitern an der Realisation (Aufwand, Zeit, Geld) und werden vom bürokratischen System eingestaubt, bis sie so grau daher kommen wie das System selbst. Andererseits: Wer ist denn prädestinierter dazu, über ein System nachzudenken und darüber zu richten als seine Teile, also Schüler und Lehrer. Schwierig werden beim Urteilen kann es durch die fehlende Distanz, aus der man häufig von Erwachsenen zu hören bekommt, dass sie froh wären, noch einmal zur Schule gehen zu dürfen. Doch trotzdem gilt: Von außen kann man das System nicht beeinflussen; von innen heraus umso mehr.

Was ist der Sinn von Schule?

In der eben gelesenen etwas polemischen Darstellung eines Schultages hat der Zwang bzw. der Druck eine Schlüsselrolle gespielt. Dass dies auch so ist, werden die meisten bestätigen. Aber ist dieser Zwang denn notwendig? Ist er nicht entbehrlich, weil alle ohne ihn freier arbeiten und sogar Spaß an Schule entwickeln könnten? Oder anders herum: Muss der Schüler vielleicht zu seinem Glück „gezwungen“ werden? Dazu muss man sich fragen: Was bietet die Schule? Nun, vieles. Das Wichtigste zuerst: Der Wissensschatz eines jeden Schülers ist gezwungen, am Ende, wenn er sein „Abitur gebaut“ hat, auf ein Vielfaches angewachsen zu sein. Nirgends sonst findet man eine solch geballte Ansammlung von vielfältigstem Fachwissen, das jungen, im Werden begriffenen Menschen (die Universität sei nicht berücksichtigt) mundgerecht serviert wird. Dieses Wissen bildet das Fundament unserer Kultur und ist erhaltenswert, weil nur so Fortschritt entstehen kann. Das scheint berechtigterweise aber nicht jedem Schüler als Segen, sondern als Fluch, denn das Gegenargument, das auf der Hand liegt, habe ich zum Beispiel in Bezug auf den Mathematikunterricht schnell im Mund: Ich brauche das alles doch gar nicht! Ein Großteil dessen, was ich gezwungen bin, zu lernen, hat für mich nach Beendigung der zwölften Klasse keinerlei praktischen Wert mehr. Doch von Nahem betrachtet gewährt genau das große Freiheit: Eine Überfülle an Wissen erweitert den Horizont und verengt ihn nicht, und zwar, weil man niemals gezwungen ist, das Wissen über die Schule hinaus zu vertiefen. Aber man hat sich wenigstens damit beschäftigt und kann sich auf dieser Grundlage guten Gewissens entscheiden, ob man zum Beispiel klassische Musik hören möchte oder nicht. Dass man sich mit ihr im Musikunterricht beschäftigen muss, ist also kein Nachteil, sondern ein Vorteil, weil die Schule so den einzelnen Schüler näher hinführt zum obersten Ziel: Ihn zu einem kritisch hinterfragenden, eigenständig denkenden und handelnden Menschen mit einer unabhängig gebildeten Meinung zu machen, kurz: Ihm zu ermöglichen, ein individueller Menschen zu sein. Vor der sechsten Klasse hätte ich nicht sagen können, dass mir die Beschäftigung mit der lateinischen Sprache und alten Sprachen überhaupt einmal viel Spaß und Erfüllung bereiten würde. Erst als mich das Schulsystem vor die Wahl Latein – Französisch gestellt hat, war ich gezwungen, mich mit einem der beiden Fächer auseinanderzusetzen. Hier hätte mir das banale und veraltete Argument, Latein schule das logische Denkvermögen, nicht weitergeholfen, um mich für oder gegen das Fach zu entscheiden. Erst indem ich es selbst betrieben habe, habe ich gemerkt, dass es mir Spaß macht. Anderen, für die diese Auseinandersetzung auch begann, brachte das Fach kein „Aha–Erlebnis“ (und das ist mehr als verständlich). Aber sie kennen jetzt das Lateinische und können fortan ihre Entscheidung, ob sie sich weiter mit ihm beschäftigen wollen, frei treffen. Dass die Wahl ggf. viel zu früh stattgefunden hat, dass sich ihr Urteil manchmal schon allzu früh herausbildet, dass sie sich damit aber bis zur zehnten Klasse herumquälen müssen, steht auf einem anderen Blatt. Doch den Zwang kann man nicht wegdiskutieren, und meiner Meinung nach findet man das auch in der Realität bestätigt. Aber die Frage (s.o.) war ja nun, ob der Zwang auch entbehrlich wäre. Wahrscheinlich wäre dieses Problem – wie so oft – durch einen Mittelweg, in diesem Fall durch eine Mäßigung zu erreichen. Wenn ich ehrlich bin, würde ich, wenn es die Schulpflicht, den Noten– und Ergebnisdruck nicht gäbe, zumindest nicht jeden Tag die Lust aufbringen können, zur Schule zu kommen. Das wäre das eine Extrem. Andererseits widerspricht der allgegenwärtige Zwang auch dem Ideal des selbst bestimmten und bestimmenden Schülers, das ich oben aufgestellt habe, indem er nur noch funktionieren und überhaupt nicht mehr selbst agieren und konstruieren muss. Das wäre das zweite Extrem. Doch man wird mir auch zustimmen, dass viele Aspekte der Schule sehr nützlich sind und nur (mich immer mit eingeschlossen) wegen der Faulheit des einzelnen abstoßen und wie Hindernisse wirken. Man lernt in der Schule über das rein Fachliche hinaus, Durststrecken durchzustehen und auf ein Ziel hinzuarbeiten, das noch so fern wirkt; man lernt, seine Konzentrations– und Aufnahmefähigkeit über einen längeren Zeitraum zu bündeln (Sinn von Arbeiten/Klausuren?), was einerseits den Geist ganz allgemein schult und wach hält und andererseits die Berufschancen vergrößert; man lernt, Strukturen zu durchschauen und selbst Strukturen anzunehmen; man lernt, um ein letztes Beispiel anzuführen, auch unter Druck gute Ergebnisse erzielen zu können. Doch mindestens bis in die zehnte Klasse liegt all das zu fern, bis dorthin ist die Schule viel zu sehr auf die Zukunft gerichtet, als dass sie auch für die Gegenwart sinnvoll erscheinen könnte. Und welchem Schüler kann man ankreiden, dass er seine Handlungen nicht von der Zukunft, sondern von der Gegenwart bestimmen lässt? Bis sie selbst Verantwortung für sich übernehmen können, brauchen Menschen klare Vorgaben und Wege aufgezeigt, die sie sicher beschreiten können. Nicht hilflos, aber hilfsbedürftig hoffen sie darauf, dass man ihnen den richtigen Weg zeigt, und wie sollen sie ihn auch selbst finden können, wenn sie nicht wissen, wie? Somit ist der Mittelweg eigentlich einfach: Ein Lehrer (als Stellvertreter der Schule) muss ein Kind/ einen Jugendlichen so lange an die Hand nehmen, bis es/er alleine laufen kann. Auf der anderen Seite darf er ihn natürlich nicht die ganze Zeit stützen, weil dann die allzu menschliche Bequemlichkeit einsetzt und die oben genannte Haltung des bloßen Konsumenten. Darin liegt die Gradwande-rung für einen jeden Lehrer, der ja idealerweise auch Pädagoge ist, deretwegen niemand zu diesem Beruf greifen sollte, nur weil er sich durch viele Ferien auszahlt. Jeder Lehrer hat eine große Verantwortung, indem er gemäß des oben formulierten Ziels mit jungen Menschen zusammenarbeitet, die im „formbaren“ Alter sind und somit auf alle Einflüsse sensibel reagieren. Ich unterstütze die Aussage, dass auch negative Seiten an einem Lehrer gleichsam als Gegenbeispiel und somit Korrektiv für die eigene Persönlichkeit dienen können nicht! Das Trauma, und sei es nur unterbewusst, wiegt schwerer als jeder Lerneffekt (was natürlich keinesfalls bedeuten soll, dass Lehrer keine Menschlichkeit zeigen sollen – das ist eine wichtige Eigenschaft! Willkür und bewusstes Schaden sind zu unterbinden!!). Umgekehrt bedeutet das natürlich auch, dass wir als Schüler uns über all die Pädagogen freuen sollten und sie nicht an ihrem Beruf verzweifeln lassen dürfen, die genug Weisheit und Reife besitzen, um uns zu signalisieren, dass Noten nur einen winzigen Teil einer Persönlichkeit zu fassen im Stande sind, dass wir uns also nicht ausschließlich über unsere Leistung definieren und unseren Wert als Mensch daran bemessen sollen und dass Scheitern ein wichtiger (!!!) Schritt ist auf dem Weg zum oben genannten Ideal – zumal sie das enge Korsett der durch die Politik geregelten Vorschriften ihren Handlungsspielraum extrem einengt. Ein Lehrer soll versuchen, einem Schüler Freiraum zu geben, sich seiner selbst bewusst zu werden, er muss jeden respektieren und wertschätzen und ihm helfen wollen, ein Mensch gemäß obigem Satz zu werden. An einer durch falsche Anleitung hervorgerufenen Haltung kann weder ein freier noch ein selbst bestimmter Mensch heranwachsen. Vielmehr ist Schule ein beständiger Prozess des Loslassens, der aber konstruktiv, also aufrichtend, sein muss und niemals destruktiv, also das Selbstvertrauen nehmend, sein darf! Dabei dürfen aber die Strukturen, die zwangsläufig nötig sind, um einen Riesenapparat wie eine Schule am Laufen halten zu können und denen sich jeder auf seine Art anpassen muss, der Ausprägung einer individuellen Schülerpersönlichkeit nicht entgegenwirken und den einzelnen erdrücken, sondern als Stütze dienen. Der Schüler hält sich an der Schule fest, nicht die Schule am Schüler. Ans Ende dieses Abschnittes möchte ich noch eine Frage stellen, die ich hier nur aufwerfen, nicht aber beantworten will, denn ich selbst weiß noch keine Antwort darauf: Muss der Erwerb von Wissen immer einem tieferen Sinn dienen, oder kann auch Spaß eine (bildungspolitische) Legitimation dafür sein? Begeben wir uns nun zum Interessanten und Entscheidenden: Begeben wir uns in den offenen Raum des praktischen Wertes und Nutzens all dieser Worte!

Sollte ein Sinn von Schule einem Schüler transparent sein?

Da nun ein theoretisches Konstrukt sich umso schlechter anwenden lässt, je breiter die Masse ist, auf die man es übertragen will, ergibt sich gleich ein wichtiger Gedanke, der hier nachträglich noch einmal angefügt sei: Es gibt natürlich nicht den objektiven Sinn der Schule, und schemaartige Annäherungsversuche sind erstens ebenfalls sehr subjektiv vom Autoren, also in diesem Fall von Jonas Brunsch geprägt und können zweitens höchstens als Denkanstoß aus einer bestimmten Richtung dienen, die individuell und kritisch weitergedacht werden mögen. Hier verhalten sich die Schemata wie die Schulnoten. Zudem läuft jedes Modell, das versucht, Menschen zu beschreiben, Gefahr, in großer Diskrepanz zur Realität zu stehen. Ganz ähnlich natürlich auch in der Schule: Ein Pädagoge / eine Pädagogin kann zu der Erkenntnis gelangt sein, dass sein / ihr oberstes Ziel seien könnte, den „Willen [des Schülers] nicht zu brechen […] ihm vielmehr dabei zu helfen, seinen Willen in die Herrschaft der Vernunft zu nehmen“ (von Hentig: sokratischer Eid); solange er / sie ein Diktat führt, nützt das wenig. Ebenso kann ein Schüler / eine Schülerin für sich einen Sinn in Hausaufgaben gefunden haben; solange er / sie nicht versucht, seiner täglichen Pflicht nachzukommen, ist dieses Wissen wertlos. So auch mit einem Sinn von Schule und den oben angeführten Gedanken: Im Vakuum betrachtet mögen sie etwas hermachen, aber der wichtigste und schwierigste Schritt ist der, sie an die „frische Luft“ zu holen. Zum theoretischen Wissen muss ebenso eine Überzeugung (man könnte sie auch als Spaß bezeichnen) treten, die sich im Handeln des einzelnen äußert und ein totes Modell belebt. So viel dazu. Sollte nun also ein Sinn von Schule dem einzelnen Schüler transparent sein? Die Frage könnte auch anders lauten: Will ein Schüler, dass ihm ein Sinn von Schule transparent ist? Denn wenn man für sich einen Sinn von Schule gefunden hat, dann bedeutet das Verantwortung, die man übernimmt, denn es rückt diesen Schüler aus der passiven Rolle in die aktive. Wenn ich nicht weiß, weshalb ich jeden Morgen zur Schule gehe, dann wälze ich automatisch die Verantwortung für die Beantwortung dieser Frage auf andere ab, in diesem Fall auf die Lehrer. „Sie werden schon wissen, was und warum sie das tun.“ In dieser Lage stehe ich in keiner Bringschuld, da ich mir über eine Sinnhaftigkeit meines Tuens nicht im Klaren bin. Eine Katze tötet eine Maus, weil sie vom Hunger dazu gezwungen wird. In dieser Lage kann man sie nicht moralisch prüfen. Sobald ich aber weiß, weshalb ich zur Schule gehe und es somit bewusst tue, übernehme ich für mich selbst und meine Handlung Verantwortung, weil ich in meiner Entscheidung, die Schule zu besuchen, nicht mehr abhängig von anderen bin. Ich bin dann mein eigener Herr. Also ist die Erkenntnis, dass Schule einen wie auch immer gearteten Sinn hat, ein wichtiger Schritt zum ganz oben aufgestellten Ideal der Schülerpersönlichkeit. Aber das ist sehr unbequem. Hier ist vielleicht ein Vergleich angebracht. Der ursprüngliche Grund, jenseits jedes transzendenten Bedürfnisses oder Dranges nach tieferer Einsicht oder Sicherheit, weshalb Menschen einen Gott in ihre Lebenswirklichkeit verpflanzt haben und brauchten, ist der, dass es schlicht bequemer für sie war, nicht selbst verantwortlich zu sein für ihr Handeln, sondern eine höh-ere Instanz über sich zu haben, auf die man verweisen konnte, wenn man angefochten wurde. „Hätte Gott gewollt, dass ich heute Morgen aufstehe …“. Genauso ist es vielleicht entnervend, keinen Sinn im Schulbesuch zu sehen, weil man keinem inneren Antrieb folgt, sondern einem fremden Zwang gehorcht, aber es ist um einiges bequemer. Sobald ich weiß, weshalb ich zur Schule gehe, muss ich mir mein eigener Antrieb sein. Und das bedeutet, dass ich persönlich dafür verantwortlich bin, wenn ich zur Schule gehe, oder es eben nicht tue. Konsequent wäre da, nicht mehr zur Schule zu gehen, aber das widerspräche dann der eigenen Erkenntnis, dass Schule einen Sinn hat und man sie daher besuchen sollte. Also fördert schon der Prozess, einen Sinn in Schule zu sehen, das Voranschreiten zu einer unab-hängigen Persönlichkeit. Dabei kann aber auch Unzufriedenheit durchaus mitgedacht werden. Im Klartext: Schule muss nicht perfekt sein und allen alles bieten können. Die Tatsache, dass ein Mangel besteht, will erkannt werden, und da es um eigene Belange geht, fängt der Schüler an, sich aus seiner Unzufriedenheit heraus Gedanken zu machen. Die Eigenschaft, über ein System kritisch zu reflektieren, egal ob ich nun zu einem positiven oder negativen Ergebnis gelange, wird geschult und erfordert eine zumindest ansatzweise Überzeugung, die ich auf den Prüfstand stelle, wenn ich Kritik an der Schule übe. Und am Ende steht wieder die Pflicht zu handeln: Wenn ich einen Missstand erkannt und erfolgreich deutlich gemacht habe, muss ich ihm entgegenwirken, sonst kann ein anderer und ich selbst meine Aufregung nicht ernst nehmen. Ein schwerer Schritt, denn motzen kann jeder … Wenn nun also die Schüler einen Sinn im Schulgang gefunden haben und man von dem günstigen Fall ausgeht, dass dies auch den zuständigen Pädagogen gelungen ist, haben alle mehr Spaß an der Arbeit und erzielen somit in freiwilliger Kooperation bessere und ertragreichere Ergebnisse, und das nicht nur auf fachlicher Ebene. Ebenso kann man hernach seinen Schwerpunkt bewusst auf die nach eigenem Ermessen wichtigen Dinge in der Schule legen (bsp. soziale Kontakte, die in der nächsten Ausgabe der KAViar zu behandeln sein werden) und reduziert sich nicht mehr nur auf Noten. Damit kann jeder den Nutzen, den er aus seiner Schulzeit zieht, gewissermaßen individuell optimieren, weil er eine gewisse Distanz zum System aufgebaut hat. Den Sinn von Schule erkannt zu haben, kann also auch eine Befreiung bedeuten, da man die Dinge vielleicht nicht mehr ganz so versteift angeht, weil man das Element des Fremdzwanges für sich selbst unnötig gemacht hat. Aber dieser Spaß kann einem auch verleidet werden, denn die Verantwortung verschwindet ja nicht. Wenn man – erneut stark verallgemeinernd – den eben beschriebenen Prozess dem somit gar nicht zu negativen Non vitae, sed scholae discimus zuordnen will, dann folgt für mich daraus, dass das Pendant, das Humanistensprüchlein Non scholae, sed vitae discimus augenscheinlich in seiner Tragweite unterschätzt wird. Denn es birgt eine Gefahr: dass man die Bindung zum Augenblick verliert. Denn wie in der Einleitung kurz angerissen, besagt ja dieser Satz, dass Schule wenig Eigenwert hat, sondern nur einer fernen Zukunft dient. Und genau hierin liegt vielleicht die Gefahr. Wenn ein Schüler schon in seiner Schulzeit den Sinn von Schule durchschaut hat, kann er das Gegenwärtige nicht genießen, und zwar nicht nur das Angenehme, sondern auch das Ärgerliche, das im Moment Unaushaltbare; denn wenn man sich über einen Lehrer ärgert, dann doch häufig nur, um die Schuld nicht bei sich selbst suchen zu müssen. Wenn man merkt, dass alle Querelen, aber auch aller Spaß nur relativ und über die zwölf Jahre hinaus kaum bedeutend ist, schafft man sich zwar ein weiteres Stück Distanz zum Alltagsärger, nimmt gleichzeitig aber der Schule ihren oben dargelegten großen Eigenwert und entwertet somit auch die dadurch herbeigeführte Folge der „gelockerten Sicht“. Ebenso kann man an den Konflikten nicht mehr wachsen, die man in der Schule täglich austragen muss, weil man alles immer nur relativiert und sie daher schlicht nicht ernst nimmt. Zudem steigt die Sorge um die Zukunft, wenn man einen Sinn von Schule gefunden hat. Man nimmt der Schule ihren Schutzraumcharakter und entlässt sich selbst viel zu früh in das verantwortungsträchtige Leben nach der Schule. Und daraus folgt im Endeffekt, dass man später nicht mehr sehnsüchtig auf seine Schulzeit zurückschauen kann und somit ihren Wert nachträglich anerkennt. Nun, was folgt daraus? Vielleicht das: Ein Schüler sollte angeregt werden, mit sich auszumachen, ob und warum er zur Schule gehen kann, um im Endeffekt selbstverantwortlich gemäß dem oben aufgestellten Ideal zu werden: ein kritisch hinterfragender, eigenständig denkender und handelnder Mensch mit einer unabhängig gebildeten Meinung zu sein, auch damit er ein Stück weit gelassener dem Schulalltag gegenüber werden kann und ihn aus der Distanz heraus betrachtet. Eine solche Anregung hoffe ich, geboten zu haben. Und selbst wenn man sich wohl nicht für jedes Thema in jedem Fach eine spezifische Legitimation aus den Fingern saugen kann, ist es wohl unsere Pflicht als Schüler, zuallererst das Privileg anzuerkennen, uns frei von Kosten und im jetzigen System sogar weitgehend frei von Verantwortung bilden zu dürfen. Aber, und auch das ich sehr wichtig: Ein Schüler sollte das alles auch hin und wieder vergessen dürfen!